Geschichte und Kultur der Roma und Sinti – von Martin Auer

Matéo Maximoff, Frankreich

Matéo Maximoff

Matéo Maximoffs Vater gehörte zum Stamm der Kalderaš, seine Mutter war eine Manouche aus der Familie der Renard. Matéos Urgroßvater wanderte nach der Aufhebung der Sklaverei in Rumänien nach Russland aus. Die Familiengeschichte erzählt, dass er in Timisoara an der Straße ein zwölfähriges jüdisches Mädchen fand. Er nahm das Mädchen auf und heiratete sie später. Er nannte sich Maximoff, weil er 2,10 Meter groß war und 160 Kilo schwer war. 1910 starb er im alter von 98 Jahren.

Matéos Großvater verdiente seinen Lebensunterhalt in Russland als wandernder Musiker und Kesselflicker. Matéos Vater und Onkel wurden in Sibirien geboren. Kurz vor dem ersten Weltkrieg zog der Großvater mit seiner Frau und seinen 14 Kindern nach Spanien. Ein anderer Teil der Familie zog nach Polen.

Matéos Familie reiste im Wohnwagen als Kesselmacher durch Spanien. Sein Vater heiratete eine Manouche, eine Cousine des berühmten Swing-Gitarristen Django Reinhardt. Matéo wurde um den 17. Jänner 1917 im „Barrio Chino“ (Chinesenviertel) von Barcelona geboren. Als er drei Jahre alt war, wanderte seine Familie nach Frankreich. Matéo sprach Romani, Spanisch und Französisch. Sein Sprachentalent hatte er vom Vater geerbt, der angeblich 23 Sprachen beherrschte. Sein Vater hatte als Soldat in Russland auch Lesen und Schreiben gelernt, als einziger in der Familie. Er zeigte seinem Sohn die Buchstaben und Ziffern. Den Rest brachte Matéo sich selber bei.

Mit 14 Jahren wurde er Waise und musste nun seine vier jüngeren Geschwister versorgen. Er reiste und arbeitete mit seinen Onkeln als Kesselhersteller. Im Sommer 1938 kam es bei dem Ort Issoire in der Auvergne zu einem Streit zwischen zwei Roma-Gruppen, die einen Kalderaš, die anderen Romanichel aus England. Ein Mädchen aus der  Maximoff-Familie war entführt worden. Der Streit endete mit Toten und Verletzten, und die Beteiligten mussten vor Gericht. Von allen Jugendlichen war nur Matéo nicht am Kampf beteiligt gewesen, er wurde aber trotzdem in Untersuchungshaft genommen. Sein Anwalt, der ihn in der Zelle besuchte, war beeindruckt, wie lebendig Matéo seine Erfahrungen und das Leben und die Bräuche der Roma beschrieb. Weil Matéo sich in der Zelle langweilte, riet ihm der Anwalt, doch etwas über die Sitten der Roma aufzuschreiben. Er wollte das für seine Verteidigungsrede verwenden. Doch was Matéo ihm einige Zeit später überreichte, war ein ganzer Roman: „Die Ursitory“. Die Ursitory sind die drei Schicksalsengel, die am dritten Tag nach der Geburt den Lebensweg eines Kindes bestimmen. Hier sagen sie dem Helden der Geschichte, er heißt Arniko, voraus, dass er so lange leben wird, wie das Holzscheit, das im Lagerfeuer brennt, nicht zu Asche verbrannt ist. Arnikos Großmutter reißt das Holzscheit aus dem Feuer und löscht es. Sie gibt es seiner Mutter zur Aufbewahrung. Arniko wird ein großer Held und erlebt Abenteuer und Liebesgeschichten. Als seine Mutter fühlt, dass sie stirbt, gibt sie das Scheit Arnikos Frau. Doch als Arniko ihr untreu wird, verbrennt sie das Scheit und er stirbt. Es ist eine märchenhafte und doch auch realistische Erzählung, ganz in der Tradition der Roma-Geschichtenerzähler. Wir erfahren aus ihr, wie die Kalderaš Rechtsstreitigkeiten lösen, welche Vorstellungen sie von Ehre haben, was „rein“ und „unrein“ bedeutet, wie die Familienverhältnisse geordnet sind, welche Macht die Frauen haben und vieles mehr.

1939 erklärte Frankreich dem nationalsozialistischen Deutschland den Krieg. Es hieß, die Zigeuner-Nomaden würden für die Deutschen spionieren. Wie viele andere Roma-Familien versuchten die Maximoffs, nach Spanien zu fliehen, doch sie wurden an der Grenze festgenommen und in ein Lager gesperrt. Zweieinhalb Jahre waren die Maximoffs und ihre Verwandten in Lagern interniert. Auch über diese schreckliche Zeit schrieb Matéo Maximoff später ein Buch: „Straßen ohne Wohnwagen“. Die französischen Internierungslager waren keine Vernichtungslager wie die deutschen, aber dennoch war die Behandlung unmeschlich: Es gab nichts zu Essen, kein Heizmaterial, keine Krankenfürsorge. Die Roma durfte nur zu bestimmten Zeiten das Lager verlassen, um sich selber mit dem Nötigsten zu versorgen. „Als ich im Alter von 23 Jahren ins Lager kam, wog ich 75 Kilo. 31 Monate später hatte ich 44 Kilo und sah wie ein mit Haut überzogenes Skelett aus“, erzählte Maximoff in einem Interview.

Von Matéos Verwandten wurden in Polen an einem einzigen Tag 27 Cousins, Onkel und Tanten ermordet. In Holland töteten die Nationalsozialisten später die zweite Frau seines Vaters und ihre Tochter. Nach dem Krieg klagte Matéo Maximoff bei einem deutschen Gericht die Anerkennung als Opfer rassischer Verfolgung ein. Nachdem die Anerkennung über vierzehn Jahre hinausgezögert worden war, gewann er schließlich den Fall und bekam als Wiedergutmachungszahlung auf Lebenszeit eine monatliche Summe.

Sein erster Roman, „Die Ursitory“, erschien nach dem Ende des Kriegs 1946 und wurde ein Erfolg. Matéo Maximoff hat insgesamt 11 Bücher verfasst. Er hat auch als Fotograf das Leben der Roma festgehalten.

Foto: Mateo Maximoff, aus "Tsiganes" 1959

Foto: Mateo Maximoff, aus "Tsiganes" 1959

Foto: Mateo Maximoff, aus „Tsiganes" 1959

Foto: Mateo Maximoff, aus „Tsiganes" 1959

1961 wurde Matéo Maximoff evangelischer Pastor. Er hat auch das gesamte Neue Testament ins Kalderaš-Romani übersetzt.

Er war insgesamt vier Mal verheiratet. Er lebte viele Jahre lang alleine und sehr bescheiden in einer kleinen Wohnung in Romainville, einem Vorort von Paris. 1985 wurde er für sein Lebenswerk mit der Auszeichnung Chevalier des Arts et des Lettres („Ritter der Kunst und Literatur“) geehrt. Er starb 1999.