Geschichte und Kultur der Roma und Sinti – von Martin Auer

Warum wurden die Roma verfolgt und wie konnten die Roma so viele Jahrhunderte der Verfolgung überleben?

Warum die Roma verfolgt wurden, ist nicht mit einigen wenigen Worten zu erklären. In jedem Land gibt es auch unter der Mehrheitsbevölkerung unterschiedliche Menschengruppen mit unterschiedlichen Interessen und Einstellungen. Eines ist allen Menschen gemeinsam: Wenn wir etwas Fremdem begegnen, einer fremden Speise, einem fremden Tier oder einem fremden Menschen, dann streiten in uns zwei Gefühle: Das eine ist Neugier. Wie mag die Speise wohl schmecken? Was mag das Tier wohl für Lebensgewohnheiten haben? Was mag der Mensch wohl denken und fühlen? Doch das andere Gefühl ist Misstrauen. Ist die Speise vielleicht giftig? Ist das Tier vielleicht gefährlich? Ist der Mensch uns vielleicht feindlich? Beide Regungen sind normal und nützlich. Es könnte gefährlich sein, alles, was essbar aussieht, gleich hinunterzuschlingen. Aber es wäre doch schade, wenn uns aus lauter Angst ein möglicher Genuss entgehen würde. Es wäre dumm, jedem Fremden blind zu vertrauen. Aber es wäre auch schade, einen möglichen Freund oder Partner gar nicht erst kennen zu lernen. Wenn Eltern mit Kindern einander besuchen, dann sagen sie oft: „Na los, spielt doch miteinander!“ Doch die Kinder kleben an ihren Eltern und würdigen die anderen Kinder keines Blicks. Dann, nach fünfzehn Minuten, toben sie schon gemeinsam durchs Zimmer.

Wenn die Gelegenheit zum persönlichen Kennenlernen da ist, dann gibt sich das Misstrauen gegen fremde Menschen sehr schnell. Problematisch wird es, wenn man die Fremden nur vom Hörensagen kennt, wenn man sie vielleicht irgendwo sieht, aber keine Gelegenheit bekommt, mit ihnen in Kontakt zu treten. Dann bleibt die Angst und das Misstrauen bestehen. Dann glaubt man gerne das, was andere über die Fremden sagen. Wenn man dann, schon mit Vorurteilen behaftet, endlich Gelegenheit bekommt, einen Fremden persönlich zu treffen, dann ist es schon viel schwieriger, die Vorurteile zu überwinden und nachzusehen, wie dieser Mensch wirklich ist. Der andere wird mein Misstrauen spüren und wird selber eine trotzige, ablehnende Haltung einnehmen. Ich fühle mich dann gleich in meinen Vorureilen bestätigt.

Es ist schwer zu sagen, wieviel die deutschen Fürsten wirklich über die Roma wussten, als sie auf dem Reichstag von Lindau die Verjagung der Roma beschlossen. Es gibt keine Hinweise, dass sie die Beschuldigungen gegen die Roma in irgend einer Weise überprüften. Mit dem Beschluss konnte man einfach den Eindruck erwecken, dass man etwas gegen die „Türkengefahr“ und gegen die Pest unternommen hatte.

Die Handwerker in den Städten konnten über so einen Beschluss nur froh sein. Manche glaubten vielleicht die Beschuldigungen gegen die Zigeuner, andere nicht. Aber alle wurden sie von einer lästigen Konkurrenz befreit.

Auch für die Kirche war es nicht wichtig, zu wissen, was die Roma wirklich glaubten und zu welchem Gott sie beteten. Derartige Beschlüsse machten einfach jedem klar, dass es im christlichen Europa nicht geduldet wurde, etwas anderes als die Lehren der katholischen Kirche zu glauben.

Wenn Menschen sich von einer Gefahr bedroht fühlen, und nicht wissen, was die Ursachen für die Bedrohung sind, dann fühlen sie sich besonders unsicher und hilflos. Niemand wusste, wie man sich gegen die schreckliche Seuche, die Pest, schützen sollte. Dass die Pest von Ratten und Flöhen übertragen wurde, wusste damals niemand. Die wandernden Roma konnte man wirklich nicht verantwortlich machen, denn die Ratten vermehrten sich in den dicht beieinander liegenden Kornspeichern und Abfallhaufen der sesshaften Bevölkerung. Doch wenn man meinte, einen Schuldigen gefunden zu haben, fühlte man sich gleich besser. Man hatte das Gefühl, dass man etwas gegen die Bedrohung tun konnte.

Wir sehen, dass sich viele unterschiedliche Bewegründe unterschiedlicher Gruppen hier verflochten haben: Weltliche und kirchliche Machthaber hatten politische Vorteile, Handwerker hatten wirtschaftliche Vorteile, Menschen, die sich vor Krankheit fürchteten, hatten psychologische Vorteile von der Verfolgung der Roma.

Während fünf Jahrhunderten wurden in Europa immer wieder Gesetze erlassen, die die Roma mit Vertreibung und Tod bedrohten. Und obwohl sie darunter gelitten haben und viele zugrunde gegangen sind, sind die Roma nicht aus Europa verschwunden. Wie war das möglich? Wieso haben diese Gesetze nicht das bewirkt, was ihr erklärtes Ziel war? Und was haben sie dann bewirkt?

Viele Menschen hatten gar kein Interesse daran, die Roma wirklich zu vertreiben, denn sie bekamen von den Roma billige Waren und billige Abeitskraft. Sie hatten aber auch kein Interesse daran, etwas gegen die Verfolgung der Roma zu unternehmen. Denn wenn jemand verfolgt wird, wenn jemand eigentlich gar kein Recht hat, da zu sein, dann muss er froh sein, wenn man ihm überhaupt Arbeit gibt, wenn man ihm überhaupt etwas abkauft. So jemand kann keine Ansprüche stellen, er muss nehmen, was man ihm gibt. Und wenn man ihn nicht mehr braucht, kann man ihn fortjagen. So mancher Adelige gewährte den Roma weiterhin Schutz, weil sie ihm zum Beispiel Waffen schmiedeten. So mancher Polizist drückte ein Auge zu, wenn er dafür ein kleines oder größeres Geschenk bekam. So mancher Dorfbürgermeister sah keinen Grund, die billigen Arbeitskräfte zu verjagen, solange sie als Erntehelfer gebraucht wurden. So manches Mal wurden die Ersparnisse reisender Händler oder Handwerker beschlagnahmt, einfach weil sie kein Recht hatten, sich in diesem oder jenem Gebiet aufzuhalten, oder weil Roma einfach von vornherein als Diebe galten, und wenn sie etwas besaßen, dann musste es ja unrechtes Gut sein. Als Verfolgte und Ausgestoßene waren die Roma am nützlichsten.

Die Gesetze, deren erklärtes Ziel war, die Roma zu vertreiben und auszurotten, bewirkten in Wahrheit, dass die Roma umso leichter ausgenützt werden konnten.

Bestrafung von aufgegriffenen Zigeunern, Nördlingen 1700

Bestrafung von aufgegriffenen Zigeunern, Nördlingen 1700

Die Roma versteckten sich vor der Verfolgung in den Wäldern. Sie wichen in Grenzgebiete aus, wo die Behörden nicht so wirksam arbeiteten. Sie hielten sich an den Rändern der Dörfer und Städte. Wenn in einer Grafschaft die Verfolgung zu arg wurde, wichen sie ins Nachbar-Fürstentum aus. Sie vermieden unnötige Kontakte mit der Mehrheitsbevölkerung und beschränkten sie auf das Geschäftliche. Je mehr die Roma verfolgt wurden, um so mehr zogen sie sich zurück. Und je mehr sie sich zurückzogen, um so geheimnisvoller und unheimlicher erschienen sie der Mehrheitsbevölkerung.

Da die Gesetze den Roma keinen Schutz boten, darf man sich auch nicht wundern, wenn die Roma diese Gesetze nicht als die ihren ansahen. Und wenn man Menschen nicht gestattet, sich ihren Lebensunterhalt auf gesetzlich erlaubte Weise zu verdienen, dann lässt man ihnen gar keine Wahl, als die Gesetze zu umgehen. Wenn wandernde Roma ihre Pferde auf einer Wiese grasen ließen, konnte das schon als Diebstahl gewertet werden, weil die Wiese nicht ihnen gehörte. Wenn sie im Wald einen Hasen fingen, war das ebenfalls Diebstahl, weil der Wald und das Wild Eigentum eines Adeligen oder eines Klosters waren.  Da die Roma allgemein von der Mehrheitsgesellschaft ausgestoßen und verfemt waren, machten natürlich auch viele Roma keinen Unterschied und sahen einfach in jedem Gadjo („Nicht-Rom“) einen Menschen, der ihnen feindlich gesinnt war, auch wenn dieser eine ihnen persönlich nichts getan hatte. Und so fanden manche wohl auch nichts dabei, da ein Huhn oder ein Kleidungsstück von einer Wäscheleine und dort vielleicht sogar ein Pferd mitgehen zu lassen. Doch im allgemeinen bemühten sich die Roma, mit der Mehrheitsbevölkerung gute Geschäftsbeziehungen zu unterhalten. Auch die wandernden Roma besuchten immer wieder dieselben Gegenden, um dort Handel zu treiben oder Arbeit zu finden und es hätte ihnen nur geschadet, die Menschen durch Diebstähle gegen sich aufzubringen.

Doch das Vorurteil hielt sich trotzdem, auch wenn es unter den Roma nicht mehr Diebe gab als unter der restlichen Bevölkerung. Das Vorurteil hielt sich, weil es nützlich war. Jeder ungeklärte Diebstahl konnte den Zigeunern in die Schuhe geschoben werden. Aber nicht nur das. Die Vorurteile gegen die Roma, die Meinung, dass die Roma unzivilisiert, ungläubig, unsauber und ungebildet waren, gaben der Mehrheitsbevölkerung ganz allgemein die Berechtigung, die Roma auszunützen. Die Menschen brauchten die Vorurteile gegen die Roma, weil sie sich sonst schuldig gefühlt hätten oder zumindest, um sich vor anderen zu rechtfertigen.

Je schlechter die Roma behandelt wurden, umso mehr schlechte Eigenschaften wurden ihnen angedichtet. Für die wallachischen und moldavischen Sklavenhalter waren die Roma „verdorbene Geschöpfe, geringer noch als Tiere“

  • Man hat den Roma das Arbeiten verboten, dann wieder hat man sie zur Arbeit gezwungen.
  • Man hat ihnen das Wandern verboten, dann wieder hat man sie vertrieben.
  • Man hat ihnen verboten, untereinander zu heiraten, dann wieder hat man ihnen verboten, Nicht-Roma zu heiraten.
  • Man hat sie in Ghettos gesperrt, dann wieder hat man ihnen verboten, in Dörfern beisammen zu wohnen.
  • Man hat ihnen verboten, die Schule zu besuchen, dann wieder hat man ihnen die Kinder weggenommen, um sie in Schule zu stecken.
  • Man hat ihnen verboten, Land zu kaufen, dann wieder hat man sie gezwungen, Bauern zu werden.