Geschichte und Kultur der Roma und Sinti – von Martin Auer

Familienleben

Im Leben von Roma steht die Familie im Mittelpunkt. Zur Familie gehören nicht nur Vater, Mutter und die Kinder, sondern auch die Großeltern, die Onkel und Tanten, auch die weiter entfernten  Cousins und Kusinen. Alle Mitglieder dieser Gemeinschaft unterstützen und helfen einander. Romafamilien halten fest zusammen, die Verpflichtungen, die man gegenüber der Familie hat, sind wichtiger als alle anderen. Niemand soll seine Familie im Stich lassen und niemand soll Schande über seine Familie bringen. In den Jahrhunderten der Verfolgung hatten die Roma sonst niemand, auf den sie sich verlassen konnten. Darum haben Roma immer auch sehr früh geheiratet. Das harte Leben hat sie früher erwachsen werden lassen. Und jeder Familienzuwachs bedeutete neue Kräfte, die später einmal die Familie unterstützen würden. Heute heiraten auch die jungen Roma nicht mehr so früh wie in der Vergangenheit. Viele warten, bis sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Aber sie heiraten im Durchschnitt immer noch früher als in der Mehrheitsgesellschaft üblich. Als rom bezeichnet man eigentlich nur einen verheirateten Mann und als romni eine verheiratete Frau. Ein unverheirateter Junge heißt  čhavo und ein Mädchen čhaj.

Die Heiraten wurden früher oft von den Eltern arrangiert. Denn eine Hochzeit war eben nicht nur eine Verbindung von zwei Menschen, sondern von zwei Familien. Bei manchen Romastämmen – zum Beispiel bei den Kalderaš – war es üblich, dass die Familie des Bräutigams der Familie der Braut einen Brautpreis zahlte. Denn die Familie der Braut verlor ja eine Arbeitskraft, die Familie des Bräutigams bekam eine dazu. Von den Mädchen wurde erwartet, dass sie jungfräulich in die Ehe gingen. Natürlich kam es auch vor, dass zwei junge Menschen sich verliebten, aber die Familien andere Pläne mit ihnen hatten und einer Heirat nicht zugestimmt hätten. Dann konnte es passieren, dass die beiden einfach ausrissen, sich irgendwo versteckten und eine Zeitlang zusammen lebten. Meist kam es dann nach einer gewissen Zeit zur Versöhnung und die Familien akzeptierten die Verbindung.

In der Ehe galt der Mann als das Oberhaupt. Wenn eine junge Frau als Bori, als Schwiegertochter, in die Familie ihres Mannes kam, hatte sie es am Anfang meist recht schwer. Die anderen Frauen in der Familie wiesen ihr oft die schwersten Arbeiten zu und ihre Meinung hatte nicht viel Geltung. Sie musste sich erst bewähren. Doch je mehr Kinder, vor allem Söhne, eine Frau hatte, um so größer wurde ihr Ansehen. Die Großmütter waren oft bedeutende Respektspersonen. Heute verändern sich auch diese Werte und vor allem gebildete Romafrauen legen Wert auf ein emanzipiertes, gleichberechtigtes Verhältnis in der Ehe und in der Familie.

Um den Lebensunterhalt zu verdienen, musste meistens die ganze Familie zusammenarbeiten. Bei den Schmieden zum Beispiel bedienten die jüngeren Kinder den Blasebalg, mit dem die Hitze des Feuers gesteigert wurde. Der Vater und die größeren Söhne wechselten sich beim Hämmern ab. Die größeren Mädchen kochten, machten sauber und kümmerten sich um die Kleinkinder, und die Mutter ging durch die Dörfer und verkaufte die Waren, die die Familie hergestellt hatte, oder tauschte sie gegen Lebensmittel ein. Auch bei vielen anderen Handwerkern war eine solche Arbeitsteilung üblich, dass die Frauen die Waren verkauften, die die Männer hergestellt hatten, oder zum Beispiel auch die kaputten Pfannen und Töpfe bei den Bauern abholten und die reparierten Gegenständen wieder ihren Besitzern brachten. Die Frauen verdienten aber auch mit Reinigungsarbeiten dazu oder indem sie die Backöfen der Bauern mit Lehm auskleideten, sie machten Körbe oder sie verdienten auch mit Wahrsagen und Betteln dazu. Da die Mutter den Handel überhatte und die Einkäufe erledigte, war oft sie es, die das Geld der Familie verwaltete. Wenn die älteren Söhne selbständig Geld verdienten, lieferten sie es der Mutter ab. Auch wenn sie heirateten, blieben sie noch bei Vater und Mutter, so lange bis die junge Frau zwei oder drei Kinder hatte. Erst dann gründeten sie einen eigenen Haushalt und gaben das Geld, das sie verdienten, ihrer Frau.

Die Aufgabe der Mutter war es natürlich auch, die kleinen Kinder und die Mädchen zu erziehen. Mit ungefähr fünf Jahren begannen die Buben, den Vätern bei der Arbeit zu helfen. Sie lernten vor allem durchs Zuschauen, später durften sie einfache Arbeiten selbständig verrichten. Auf dieselbe Art lernten die Mädchen von der Mutter die Frauenarbeiten. Die wandernden Roma waren auch gut mit den Früchten des Waldes vertraut, mit Pilzen, Beeren, Nüssen, Wurzeln und Kräutern. Dieses Wissen wurde vor allem von den Frauen weitergegeben. Pilze, Beeren und Kräuter zu sammeln, das war eine Arbeit, die auch kleinere Kinder schon machen konnten, und die Frauen verkauften diese Dinge dann an die Bauern oder besserten damit den Speisezettel ihrer Familie auf. Auch die Krankenpflege war Aufgabe der Frauen und so wussten sie auch über die heilenden Wirkungen vieler  Pflanzen Bescheid.

Wenn die Mutter von kleinen Kindern starb, heiratete der Vater oft eine Schwester der Mutter, die noch unverheiratet war. Die würde besser für die Kinder sorgen als eine Fremde, da sie ja mit ihnen verwandt war. Wenn der Vater starb, blieb die Mutter oft unverheiratet. Wenn beide Eltern starben, dann übernahm eine Großmutter die Sorge für die Kinder, oder auch ein älterer Bruder oder eine ältere Schwester, die schon verheiratet waren. Nie hätten Roma zugelassen, dass Kinder aus ihrer Familie in ein Waisenhaus gekommen wären. Genau so wenig hätte man auch alte Verwandte in ein Altersheim gegeben. Die Familie sorgte für jeden.